Wo die Neuronen feuern
Christian Gerloff hat Elektrische Energietechnik studiert. Als Doktorand an der Graduiertenschule HDS-LEE forscht der Ingenieur nun daran, mit Data Science-Methoden eines der komplexesten Systeme weiter zu enträtseln: das menschliche Gehirn.
Bevor Christian Gerloff, vor seinem Rechner sitzend, überhaupt die Chance auf einen Heureka-Moment hat, hatten Menschen – zum Beispiel im Universitätsklinikum Aachen – seltsame, schwarze Hauben auf dem Kopf. Daran: zahlreiche Kabel, Optoden, Sensoren. Durch die Kopfhaut der Probanden wurde Infrarotlicht gestrahlt, dessen Reflektion wurde wiederum gemessen und zwar, während die Probanden in verschiedenen Zuständen waren – etwa während sie zu zweit ein Computerspiel spielten oder auch in Momenten der Entspannung.
In solchen Experimenten wollen die Neurowissenschaftler im Universitätsklinikum mittels funktioneller Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS), feststellen, welche Regionen in den Gehirnen der Probanden während jener Zustände aktiv sind. Man sieht es an der Änderung der Konzentration des Sauerstoffs im Blut, die sich anhand des Infrarotlichts messen lässt. Ist eine Hirnregion aktiv, wird diese in der Regel stärker durchblutet, dann ist der Sauerstoffgehalt dort größer, dann feuern dort vermutlich gerade besonders viele Neuronen. Und aus diesen Messungen in Datenform wiederum, möchte die Wissenschaft Rückschlüsse ziehen.
Das ist, kurz gesagt, der Punkt, an dem die Arbeit von Christian Gerloff beginnt. Christian Gerloff ist Doktorand. Ziel seiner Doktorarbeit mit dem Titel „Maschinelles Lernen und Bayes’sche Modelle in der Neurowissenschaft“ ist es, gesicherte Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie das menschliche Gehirn organisiert ist – und zwar sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die spätere therapeutische oder klinische Anwendung.
Blackbox Gehirn
„Das Gehirn“, sagt Christian Gerloff, „ist eines der komplexesten Systeme, die wir kennen.“ Doch für die Wissenschaft ist es noch in vielerlei Hinsicht eine Blackbox. Für den jungen Forscher sind es daher Glücksmomente, wenn er ein Stück weit enträtseln kann, wie einzelne Gehirnareale eines Menschen zusammenhängen, aber auch, wie sich die Gehirne verschiedener Menschen zueinander verhalten, während sie miteinander interagieren.
Denn diese Erkenntnisse könnten sich nutzen lassen, um den Zusammenhang zwischen sozialen Erfahrungen und biologischen Systemen zu erforschen, wie etwa, ob es charakteristische neuronale Zustände gibt, in denen eine Mutter und ihr Kind besser emotional aufeinander eingehen können. Zum anderen ergeben sich in seiner Forschung auch klinische Anwendungsfelder, wie zum Beispiel die neurologischen Hintergründe von Krankheitsbildern wie ADHS besser zu verstehen oder individuell die kognitiven Beeinträchtigungen durch Schlaganfälle vorhersagen zu können.
Die Neurowissenschaften vorantreiben
Doch Christian Gerloff ist kein Neurowissenschaftler – er ist Ingenieur. Seinen Masterabschluss machte er an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH) in Elektrischer Energietechnik. Er schrieb darüber, inwiefern sich mittels Sensordaten von modernen Fahrzeugen vorhersagen lässt, wann und welche Defekte eines Fahrzeugteils vorliegen. Dabei arbeitete Gerloff bereits an Themen aus verschiedenen Fachbereichen mit den Methoden des Machine sowie des Deep Learning – sprich: mit künstlichen neuronalen Netzen, die den Funktionsweisen des Gehirns nachempfunden sind. So kam er in Berührung mit der Neurowissenschaft, fing Forscherfeuer und grub tiefer.
Was das blau-rote Datenbild verrät
Wohin wandert das Blut im Kopf?
Die blau-rote Darstellung des Kölner Designers Michael Schmitz beruht auf einem Datensatz aus Christian Gerloffs Forschungen. Er enthält Signale von 22 verschiedenen Quellen aus verschiedenen Hirnregionen zweier Teilnehmer. Die Daten wurden gleichzeitig erhoben und geben Auskunft über die Oxyhämoglobin-Konzentration in den einzlenen Hirn-Arealen der Probanden. Anhand des Datensatzes untersucht Gerloff, wohin das Blut im Gehirn geschickt wird, vermutlich weil die Neuronen in diesem Bereich während einer geistigen Aufgabe aktiver sind.
Und genau das machte ihn zu einem passenden Kandidaten für die Graduiertenschule HDS-LEE in Jülich. Die School for Data Science in Life, Earth and Energy wurde im März 2019 von der Helmholtz-Gemeinschaft gegründet und ist eine Kooperation zwischen der RWTH, der Universität zu Köln, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, dem Max-Planck-Institut für Eisenforschung sowie dem Forschungszentrum Jülich.
Ziel der HDS-LEE ist es, den interdisziplinären Ansatz zwischen den Daten- und den Naturwissenschaften zu fördern. Denn in den meisten Naturwissenschaften werden immer mehr und immer komplexere Daten generiert, für die es Experten braucht, die sowohl die naturwissenschaftlichen Fragestellungen verstehen als auch die Expertise haben mit den Daten so umzugehen, dass aus ihnen größtmögliche Erkenntnisse gewonnen werden können. Die HDS-LEE unterstützt daher junge talentierte Wissenschaftler aus den Bereichen Mathematik, Informatik-, Natur- und Ingenieurswissenschaften, die die Entwicklung von Data Science-Methoden vorantreiben.
„Die neuronalen Vernetzungen unseres Gehirns bestimmen über unsere kognitiven Fähigkeiten. Zugleich sind sie Ursprung vieler Methoden in den Datenwissenschaften.“
Christian Gerloff, Doktorand
Christian Gerloff gehört seit Mitte 2019 zur ersten Kohorte der HDS-LEE. Der Ansatz seiner Promotion ist es, grob heruntergebrochen: das Gehirn als funktionales Netzwerk zu analysieren – und mit datenwissenschaftlichen Methoden zu erforschen, wie genau es operiert.
Dabei wendet Gerloff auf jene Daten, die aus Experimenten oder Datenbanken stammen und z.B. mit der funktionellen Nahinfrarotspektroskopie (fNIRS), aber auch der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) gewonnen werden, Methoden des maschinellen Lernens an, also Algorithmen und Statistik, sowie Bayes’sche Modelle, bei denen es um die Errechnung von Wahrscheinlichkeiten geht. Ein Großteil seiner Arbeit verbringt er mit Programmieren an Hochleistungsrechnern – und dem Testen seiner Implementierungen und Methoden. Zugleich arbeitet er kontinuierlich am Verständnis und an der Verfeinerung von Methoden, um sicherzustellen, dass die Studien zu robusten Forschungserkenntnissen führen.
Das Gehirn als Inspirationsquelle und Anwendungsgebiet
„Die Funktionsweise des Gehirns, seine neuronalen Vernetzungen“, so der junge Forscher fasziniert, „bestimmen über unsere kognitiven Fähigkeiten. Sie definieren uns also ein Stück weit und zugleich sind sie der Ursprung vieler Methoden in den Datenwissenschaften.“ Denn diese sind teilweise dadurch inspiriert, wie das menschliche Gehirn Informationen verarbeitet. „Gleichzeitig aber sind das Gehirn und die heute zur Verfügung stehenden Daten über das Gehirn, so komplex, dass ein besseres Methodenverständnis und die Weiterentwicklung moderner Methoden nötig sind, um es besser zu verstehen“, sagt Gerloff. „Das Gehirn kann somit zugleich Inspirationsquelle und Anwendungsgebiet sein.“ Sich mit der Kombination von Hirnforschung und Data Science zu beschäftigen, stellt daher eine wundervolle Symbiose dar.
Austausch ist dabei das Zauberwort. Und die interdisziplinäre Begleitung durch die HDS-LEE fördert genau das. Die betreuenden Professoren sind für Christian Gerloff: die Professorin Kerstin Konrad, die das Lehr- und Forschungsgebiet Klinische Neuropsychologie des Kindes- und Jugendalters am Uniklinikum Aachen leitet sowie ein Institut am Forschungszentrum Jülich, Professor Danilo Bzdok von der McGill University und dem Mila Quebec Artificial Intelligence Institute, sowie Raul Fidel Tempone, Professor für Mathematik an der RWTH Aachen.
„An der HDS-LEE können wir uns über unsere Forschungsbereiche hinweg mit anderen Disziplinen austauschen. Das inspiriert, die Probleme im eigenen Bereich anders zu lösen.“
Christian Gerloff, Doktorand
„Die HDS-LEE ermöglicht es uns zudem, dass wir uns auch über unsere jeweiligen Forschungsbereiche hinweg austauschen können“, sagt er. Und zwar nicht nur mit den eigenen Betreuern, sondern auch mit den Doktoranden aus anderen Disziplinen. „So erfahren wir etwas über die anderen Fachbereiche und können uns zugleich inspirieren lassen, die Probleme im eigenen Bereich besser zu verstehen oder anders zu lösen.“ Es sind die unterschiedlichen Blickwinkel, die sich gegenseitig befruchten. Die Doktoranden der HDS-LEE besuchen gemeinsam Fachvorträge, Seminare und Konferenzen. „So arbeitet man nicht nur für sich im stillen Kämmerlein“, sagt Gerloff, „sondern tauscht sich sowohl fachlich als auch persönlich mit den anderen Doktoranden aus.“
Fragt man Gerloff, ob er während seiner Forschung schon Heureka-Momente hatte, grinst er und sagt: „Ja, und auch genau das Gegenteil!“ Manchmal sei man sehr glücklich, wenn man neue Erkenntnisse über neuronale Zusammenhänge gewinne, manchmal stelle man aber auch im Nachhinein fest, dass die ein oder andere Vorfreude noch zu früh war und eine gewisse Spur doch ins Leere führt. So ist das in der Forschung. Man braucht Sitzfleisch und auch eine gewisse Frustrationstoleranz. Die scheint Gerloff zu haben. Er ist jemand, der reflektiert, bevor er antwortet und vor allem erst einmal bescheiden bleibt. Er hat eine warme Ausstrahlung und mag es, dass es in seiner Forschung vor allem um den Menschen geht.
Autorin: Andrea Walter