Der Neutronenfänger
Wenn Sterne explodieren, schleudern sie Teilchen ins All, die als Neutronen auf die Erde regnen. Wissenschaftler wie Martin Schrön nutzen diesen Vorgang, um die Bodenfeuchte zu messen. Mit diesen Daten kann man künftig besser auf Klimaveränderungen reagieren.
Vergangenen Sommer hat Martin Schrön regelmäßig seinen Geländewagen klar gemacht und ist die Felder entlanggefahren. Die mobile Messstation in seinem „Cosmic Ray Rover“, dem kosmischen Strahlungs-Auto, scannt beim Fahren die Umgebung: Wie viele Neutronen schweben in der Luft? Im Kofferraum des Rovers liegt der Neutronen-Detektor, eine Röhre gefüllt mit Helium3-Gas. Sie ist verbunden mit einem Datenlogger, der aufzeichnet, was der Röhren-Detektor findet. Immer wenn ein Neutron in die Röhre fliegt, blinkt kurz eine kleine rote Lampe. Und Neutronen findet der Detektor tausendfach, wenn Martin Schrön mit dem Rover über Feldwege, Straßen und Wiesen rumpelt. „Und dann wissen wir ziemlich genau über die Bodenfeuchte Bescheid.“
Aber Moment mal, was haben Neutronen mit Bodenfeuchtigkeit zu tun? Und wieso überhaupt ist hier, auf der Ackerscholle, zwischen Weizen, Raps und Brachland, von kosmischer Strahlung die Rede? Schrön lacht. „Weil das eine ganze Menge miteinander zu tun hat.“
Wohl wenige Menschen können das so schön erklären wie der Leipziger Physiker, der seit sieben Jahren am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ in Leipzig die Erkenntnisse der Sternenwissenschaft für die Hydrologie nutzt. „Neutronen sind unsere Helden in der Umweltforschung“, sagt Schrön. Wieso? „Weil sie uns viel über das Wasser erzählen können.“ Und das funktioniert so: „Wenn Sterne explodieren, schleudern sie ihre Bestandteile ins Universum: hauptsächlich Protonen und Elektronen.“ Das ist die kosmische Strahlung. „Treffen die Protonen auf die Erdatmosphäre, entstehen Neutronen.“ Die Neutronen regnen auf die Erde hinab. Weil sie elektrisch neutral sind, werden sie von den geladenen Atomhüllen nicht abgelenkt und fliegen fast ungehindert durch alle Atome hindurch. Im Fall des Ackers heißt das: Die Neutronen prasseln auf den Boden und schlüpfen bequem durch Erde, Wurzeln und Steine. Treffen sie dabei allerdings auf die Atomkerne, prallen sie ab und springen in die Luft zurück. Sie werden reflektiert, wie es in der Physik heißt.
„Neutronen sind unsere Helden in der Umweltforschung. Weil sie uns viel über das Wasser erzählen können.“
Martin Schrön, Wissenschaftler am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
Wie beim Billiardspiel
Es sei denn sie treffen auf Wasserstoff, das leichteste Atom von allen. Es ist genauso schwer wie ein Neutron und kann es daher bremsen. Das Neutron bleibt im Boden stecken. Schrön: „Es ist wie beim Billardspiel: Eine Kugel knallt auf eine gleich schwere, liegende Kugel, die ihre Energie aufnimmt. Die geschossene Kugel bleibt liegen, die andere rollt davon.“ Ist ein Acker voller Wasser, schweben über ihm also kaum noch Neutronen. Ist er trocken, schwirren viele reflektierte Neutronen in der Luft. Und genau das erfassen die Detektoren, mit denen Martin Schrön und sein Team die Felder entlangfährt. „Das können wir zum Beispiel nutzen, um Hochwasser vorherzusagen.“ Nähert sich eine breite Regenfront, heißt es ad hoc Stichproben machen, Bodenfeuchte checken. „Ist der Grund bereits sehr nass, kann der Regen nicht versickern, Überschwemmungen sind wahrscheinlicher und die Region kann Vorkehrungen treffen.“
Angesichts des Klimawandels ist so ein sensibles Frühwarnsystem Gold wert. Denn Wetterextreme nehmen zu, von Überschwemmungen bis zu Hitzewellen. Herkömmliche Satellitenmessungen aber sind viel zu ungenau. Sie messen die Bodenfeuchtigkeit nur bis in wenige Zentimeter Tiefe. Doch die ersten Zentimeter sind oft trügerisch, das Wasser versickert dort sehr schnell. Oft enthält die Erde darunter aber noch genügend Wasser, künstliche Bewässerung wäre also unsinnig. Oder: Ist der Boden sehr feucht, kann er bei Überschwemmungen nicht mehr viel Wasser aufnehmen. In die Tiefe kommt man zwar mit traditionellen Handmessgeräten, aber sie erfassen nur eine kleine Fläche. Eine Vermessung ganzer Felder ist damit kaum realistisch, mit Neutronenmessung aber ein leichtes Spiel: Denn sie vermischen sich in der Luft über 10 bis 20 Hektar hinweg und liefern daher zuverlässige Messwerte für große Flächen. Die Sternenexplosionen im Weltall können Bauern helfen, sich zeitig auf Trockenheit einzustellen und gegenzusteuern. Wie lange hält die Hitzewelle noch an? Muss mehr bewässert werden? Wieviel Wasser nimmt mein Boden noch auf?
Den Dingen auf den Grund zu gehen hat Martin Schrön schon als Kind fasziniert. Egal, ob es um das Universum oder die Kartoffeln in Vaters Garten ging, die nicht wachsen wollten.
Ein sonniger Frühlingstag in Leipzig, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Heute sitzt Astrophysiker Schrön am Schreibtisch, wertet Daten aus, plant die nächsten Messungen und denkt darüber nach, wie sich die Neutronenmethode noch verbessern ließe. „Gerade in abwechslungsreichem Terrain sind die Daten manchmal schwierig zu interpretieren“, sagt Schrön. Denn die Umgebung beeinflusst die Messergebnisse. Eine Asphaltstraße, über den der Detektor rollt, ist meist trockener als der angrenzende Acker. Auf einem verdichteten Landwirtschaftsweg ist der Boden in der Regel weniger feucht als auf einem Feld. Und warum, verflixt, fängt der Detektor bei der Fahrt über trockene Erde manchmal weniger Neutronen ein als erwartet? Vielleicht liegt es an dem See hinter der nächsten Kurve, der alle Neutronen schluckt. „Alles in der Umgebung sendet Signale aus, Häuser, Bäume, Autos“, sagt Schrön. „Wir feilen an Computermodellen, die uns die Interpretation der Daten erleichtern.“
Wie entstehen Sterne in der Galaxis, warum verbinden sich Atome zu Molekülen?
Wieso turnen Neutronen durch die Luft, wie entstehen Sterne in der Galaxis, warum verbinden sich Atome zu Molekülen – solche Fragen haben Martin Schrön schon als Kind fasziniert. Egal, ob es um das Universum oder die Kartoffeln in Vaters Garten ging, die nicht wachsen wollten. Was stimmte nicht mit dem Boden? Schrön nennt es „die Freude, den Dingen auf den Grund zu gehen.“ Das treibt ihn an, bis heute. Deshalb hat er Physik studiert. Hat sich für die Uni Heidelberg entschieden, wo Institute unterschiedlicher Fachdisziplinen zusammentreffen: Astro-, Teilchen-, Bio-, Umweltphysik und und und. Genau das Richtige für einen, der den Blick aufs große Ganze sucht.
Zur Entstehung der Sterne hat Schrön sein Diplom gemacht. Weil er kurz darauf sein erstes Kind bekommt, zieht der junge Wissenschaftler zur Familie in Greifswald und tauscht die Erforschung der Sterne gegen die Erforschung der Moore. Später wechselt er ans Umweltforschungszentrum der Helmholtz-Gesellschaft in Leipzig. Das erste Neutronenmessgerät ist gerade auf den Markt gekommen, jetzt soll die Methode erprobt und weiterentwickelt werden. Genau das Richtige für Schrön, der seine Liebe zur Natur und zur Astrophysik so gern verbinden will. „Hydrologie und Geowissenschaften waren neue Forschungsfelder für mich, in die ich mich erst einarbeiten musste.“
Seitdem steckt Schrön mittendrin. Mal stapft er mit Sensoren über weite Ackerflächen. Mal brütet er über Formeln oder entwickelt Simulationen, um die Effekte von Umweltfaktoren einzuschätzen. Inwieweit beeinflusst zum Beispiel die Intensität der Sonne die kosmische Strahlung? Wie lassen sich Erkenntnisse aus den Messungen für andere Regionen der Erde nutzen? Als Physiker hat der 34-Jährige eine andere Perspektive auf die Probleme als die Hydrologen aus seiner Abteilung. Sollte man Teilchen auf Quantenebene in die Berechnungen miteinbeziehen? Kann man Bodenfeuchte auch aus einem Hubschrauber oder Zug heraus messen? „Nur die interdisziplinäre Zusammenarbeit bringt uns auf diesem Forschungsfeld voran.“
Mit Wettermodellen den Verlauf von Hitzewellen besser vorhersagen
Vor zwei Jahren schon haben sich daher Wissenschaftler von acht Instituten zur Forschungsgruppe Cosmic Sense der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zusammengeschlossen. Teilchenphysiker, Geowissenschafler, Fernerkundungsexperten, die sich mit Satellitenbildern beschäftigen, und Hydrologen, die Wege des Wassers in der Landschaft simulieren, mit an Bord. Gemeinsam bauen sie neuartige Detektoren, entwickeln bessere Ansäzte zur Korrektur und Analyse von Messdaten, programmieren Simulationen von Wasserflüssen im Boden und probieren neue Messverfahren aus.
Es gibt immer noch so viel, sagt Schrön, das noch nicht verstanden ist. Wie genau etwa entstehen Hitzewellen und wie kann man ihre Dauer vorhersagen? Sind unsere Vorhersagemodelle gut genug? Welchen Einfluss haben Zustand und Aufnahmefähigkeit des Bodens? In den kommenden Jahren wollen Schrön und sein Team vor, während und nach Hitzewellen vor Ort Daten sammeln. „Damit können wir unsere Wettermodelle trainieren und so vielleicht den Verlauf von Hitzewellen in anderen Regionen besser vorhersagen“, sagt Schrön. „Aber dazu müssen wir die Prozesse dahinter genau verstanden haben“.
Es reicht ein Klick auf Youtube, um zu sehen, dass es Schrön ernst damit ist. Bei Wissenschaftsshows wie dem FameLab federt er fröhlich in Blaumann und Karohemd auf die Bühne, ein verschmitztes Lächeln in den Mundwinkeln, schüttelt ein leichtes, weißes Seidentuch auf, „stellen wir uns das als große, galaktische Gaswolke vor, die im Universum herrumschwirrt“, das Tuch schwebt durch die Luft, „der Gaswolke wird natürlich langweilig und auf Grund der Schwerkraft wird sie zusammenfallen nach und nach“, Schrön knuddelt das Tuch zusammen, „und immer dichter werden und immer wärmer dadurch“, Schrön knautscht das Tuch fester, „irgendwann wird ein Stern daraus gepresst sein“. Schwupps, Schrön zaubert einen kleinen gelben Ball aus dem Tuchknubbel hervor und grinst. Einfach oder? 2015 gewann der Astrophysiker sogar die Deutschen Science Slam-Meisterschaft und 2018 den Klaus-Tschira-Preis für Wissenschaftskommunikation.
Helfen Bilddaten, den Einfluss der Umwelt auf die Neutronendichte über dem Boden besser zu verstehen?
Mittelweile hat Schrön kaum noch Zeit für Wissenschaftsshows. Er steckt alle Energie in die Forschung. Seit kurzem machen on-board-Kameras an seinem Cosmic Ray Rover während den Messungen Fotos der Landschaft. Die Bilddaten sollen helfen, den Einfluss der Umwelt auf die Neutronendichte über dem Boden besser zu verstehen. Warum zum Beispiel war der eine Acker in Nordbayern am 16.Juni 2018 so trocken? Wie sah damals die Landschaft aus, welche Pflanzen wuchsen auf dem Feld? Hilft uns das, die Messdaten besser zu interpretieren? Schrön: „Aber händisch können wir Tausende Fotos natürlich nicht auswerten.“ Es braucht die Hilfe Künstlicher Intelligenz.
Aber damit die KI helfen kann, muss sie erstmal gründlich trainiert werden. „Straßen, Bäume, Grasland, Sumpf, Felsen, Städte und Vegetation auseinander zu halten, ist für den Menschen ein Kinderspiel, für Computer eine Herkulesaufgabe.“ Jeder Baum, jede Pflanze, jede Straße sieht anders aus, und Computer müssen sie auf Fotos unterscheiden und sortieren lernen. Nur wie? Alleine können Martin Schrön und seine Abteilung das Problem nicht lösen. „Ich habe keinen blassen Schimmer von Künstlicher Intelligenz“, sagt Schrön. „Es braucht gevievte Maschine-Learning-Experten, um diese Nuss zu knacken.“ Bis er hier Unterstützung gefunden hat, schwingt sich Schrön weiter auf den Cosmic Range Rover und sammelt Fotos und fängt Neutronen aus dem All.
Text: Anja Dilk