"Wir stehen am Anfang eines Marathons"

Wie können wir Aquakulturen und Proteinquellen aus den Meeren besser erschließen? Die Datenwissenschaften können dabei helfen, die Prozesse in den Ozeanen besser zu verstehen. Fotocredit: Bob Brewer/unsplash

Zum Schutz und zur Nutzung der Meere werden immer mehr Data Scientists gebraucht. Ihr Wissen ist in zahlreichen Bereichen gefragt. Für Absolventen der MarDATA bieten sich damit hervorragende Karrierechancen, meint Jann Wendt, Chef des Cloud-Spezialisten north.io.

Ihr Unternehmen North.io beschäftigt sich unter anderem mit der Räumung von alter Kriegsmunition in den Meeren. Sie erstellen Karten, die zeigen, wo noch Kampfmittel liegen. Warum benötigt man dafür Data Science?

1,6 Millionen Tonnen Munition vor allem aus dem Zweiten Weltkrieg liegen noch in der Nord- und Ostsee, das entspricht einem Zug von 2.500 Kilometern Länge. Um sie zu finden, müssen wir extrem umfangreiche und vielfältige Datenmengen verarbeiten: Beispielsweise Daten aus handschriftlichen historischen Dokumenten, die verzeichnen, was wann wo versenkt oder gesprengt wurde, optische Daten von Unterwasserrobotern bis zu Sonardaten. Ohne Data Science und KI wäre das gar nicht möglich.

Warum ist es mehr als 75 Jahre nach dem 2. Weltkrieg wichtig, die Minen und Bomben zu bergen?

Die Korrosion hinterlässt zunehmend Spuren an der Munition, vieles ist durchgerostet. Immer mehr Giftstoffe aus dem Inneren treten dadurch ins Meer aus. Die Konzentration von Sprengstoff nimmt messbar an vielen Stellen der Ozeane zu. Das belastet Flora und Fauna, selbst im Filet von Fischen werden kleinste Mengen an Rückständen gemessen. Gleichzeitig wird es immer schwieriger, die Munition mit magnetischen Sensoren zu detektieren, je mehr die Hüllen zerfallen. Deshalb müssen wir jetzt mit autonomen Systemen eine hohe Effizienz an den Tag legen.

Wie funktioniert die Suche?

Es gibt zahlreiche Sensoren, mit denen Daten vom Meeresgrund erhoben werden, die entweder den Meeresgrund akustisch abtasten oder ins Sediment eindringen können. Multibeam Daten geben uns mittlerweile so detaillierte Informationen über die Oberfläche des Meeresbodens, dass sich kleinste Objekte erkennen lassen. Magnetische Systeme messen die Abweichungen im Erdmagnetfeld, die resultierenden Daten helfen dabei Munition tief im Sediment aufzuspüren. Dennoch bleibt es eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wir haben bislang nur einen Bruchteil vermessen, denn all diese Systeme gibt es noch nicht lange. Ohne Künstliche Intelligenz und die Methoden der Datenwissenschaften, die solche Daten systematisieren, einordnen und analysieren, kämen wir auch nicht schnell genug voran.

Das Meer ist eine hochkomplexe, dynamische Umgebung, die man verstehen muss, um beurteilen zu können, wieso zum Beispiel eine Aufnahme so aussieht und welche Aussagekraft Daten haben.

Unser Gesprächspartner Jann Wendt

Jann Wendt

Jann Wendt ist Umwelt-Geograph, Gründer und Unternehmer aus Kiel. In seinem Studium beschäftigte er sich mit der Erderkundung mithilfe von Satelliten. Mit seinem Unternehmen north.io entwickelt Wendt Software-Lösungen, die Welt in Geodaten entschlüsselt. 

north.io unterstützt mit digitalen Lösungen Behörden und Unternehmen, die an Land und zu Wasser Antworten auf die anstehende Klimakrise und die verantwortungsvolle Nutzung der Ozeane und Landmassen suchen. North.io hat 70 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Wendt initiierte darüber hinaus zahlreiche Projekte zum Thema Klimaschutz und digitale Transformation mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, dem Geomar in Kiel und mit Fraunhofer Instituten.

 

Wo setzen Sie Marine Data Scientists dabei ein?

Bei der Analyse der Daten. Die maritimen Daten sind sehr komplex, die Informationen, die man aus ihnen gewinnen kann, sind hoch spezifisch. Deshalb brauchen wir Experten und Expertinnen mit einer Ausbildung, die sowohl das Wissen im maritimen Bereich, als auch datenwissenschaftliches Know-how abdeckt. Das Meer ist eine hochkomplexe, dynamische Umgebung, die man verstehen muss, um beurteilen zu können, wieso zum Beispiel eine Aufnahme so aussieht und welche Aussagekraft Daten haben. Sind die Daten überhaupt gut genug, um Munition finden zu können?

In welchen anderen Bereichen der maritimen Wirtschaft sind die Qualifikationen der Absolventen der MarDATA wichtig?
Die Energiewende hat durch Klimakrise und den Krieg in der Ukraine dramatisch an Dringlichkeit gewonnen. Das zwingt weltweit zum Ausbau von Offshore Windkraft. Auch dafür brauchen wir Arbeitskräfte, die sich mit Data Science ebenso wie mit den Meereswissenschaften auskennen. Wir haben jetzt Ausbauziele von hunderten Gigawatt weltweit. Aus einzelnen Windparkprojekten werden auf Effizienz getrimmte Prozesse. Für die MarDATA-Absolventinnen und Absolventen bedeutet das jede Menge Karrierechancen.

Wo werden Data Scientists beim Offshore-Ausbau konkret eingesetzt?

Das reicht von der Planungsphase eines Windparks über die Analyse von Bohrkernen, um geeignete Standorte für die Anlagen zu finden, den effizienten Betrieb der Windkraft bis zum Rückbau von Offshore Windparks. Um sie entwickelt gerade eine riesige, sehr spannende Industrie. Datenprofis mit maritimen Kenntnissen werden auch deshalb dringend benötigt, weil die maritime Wirtschaft bislang wenig Erfahrung damit hat, wie sie Data Science optimal nutzen kann.

Warum ist das so?

Die Googles und Amazons dieser Welt haben diese Domäne schlicht bisher nicht so auf dem Schirm gehabt und kein Geld in die Erforschung des Feldes gesteckt, um herauszufinden, was sich hier mit Daten machen lässt. Bislang sind da nur Wissenschaft, Klein- und Mittelunternehmen unterwegs.

Sie bauen die neuen Modelle der Sensorik, entwickeln KI und Algorithmen, die Datensätze auswerten. Früher oder später aber werden die großen Player eine wichtige Rolle spielen. Sie müssen diese Blue Economy - so nennen wir die Meereswirtschaft -  nur erst noch für sich und ihr Geschäftsmodell entdecken.

Wo sehen Sie das Potential dieser Ökonomie?

Zum Beispiel im Ausbau einer systematischen Dateninfrastruktur. Momentan werden Messdaten meist nur für eine einzige Fragestellung verwendet. Ich habe eine konkrete Frage, fahre mit einem Schiff dort hin, messe und werte die Daten anschließend aus, um eine Antwort auf meine Frage zu finden. Aber vermutlich lassen sich mit diesem Datensatz noch zwanzig, dreißig andere Fragen ebenso beantworten – wenn er vernünftig analysiert wird und Akteure mit anderen Fragen wissen, dass es den Datensatz gibt. Dafür braucht es ein maritimes Datenökosystem. Das wäre auch finanziell extrem sinnvoll….

… weil die Erhebung von maritimen Daten aufwendig und teuer ist?

Genau. Ich kann ja nicht einfach Sensoren an ein Produktionssystem schrauben oder ein Messgerät in der Natur aufstellen, sondern muss ein Schiff chartern, brauche teure Unterwasser-Sensorik und Spezial-Personal, das all das bedienen kann. Um etwa magnetische Daten zu sammeln, zieht ein Schiff einen etwa 20 Meter breiten Schlitten mit Messgeräten hinter sich her. Sie können sich vorstellen, wie viele Schleifen man drehen muss, um eine gewisse Fläche im Meer abbilden zu können. Jetzt zeichnet sich langsam ab: In einer Blue Economy wird es Unternehmen geben, die bestimmte Areale von autonomen Systemen abfahren lassen und auf einem Marktplatz anbieten.

Vor zehn Jahren gab es kaum Systeme, die selbstständig im Wasser Daten aufnehmen konnten. Nun werden bei einer Schifffahrt mehrere autonome Systeme parallel losgeschickt, kleine Torpedo-ähnliche Systeme, die automatisch Daten sammeln. Durch diese Automatisierung wird es bald viel mehr Daten für viel weniger Geld geben. Daten von der Stange, wenn man so will.

Die Datenwissenschaften können dabei helfen, besser zu verstehen, wie diese Prozesse in den Ozeanen ablaufen und wie Menschen sie nutzen können, um die Probleme der Zukunft zu bewältigen.

Jann Wendt

Sie haben dafür die SaaS-Plattformtechnologie TrueOcean entwickelt und koordinieren das Verbundprojekt MariSpaceX. Dort arbeiten sie bereits am Aufbau einer Dateninfrastruktur, die andere Firmen nutzen könnten.

Ja, TrueOcean ist eine Plattformtechnologie, entstanden aus einem gemeinsamen Forschungsprojekt mit dem Geomar. Wir bauen dafür eine cloudbasierte Plattformtechnologie für maritime Daten auf - unabhängig vom Thema Munition. Wir möchten damit die Demokratisierung von maritimen Daten vorantreiben. Die Plattformtechnologie, die Daten und Algorithmen stellen wir gegen Gebühr anderen Unternehmen zur Verfügung.

Welche Einsatzfelder für Data Scientists mit maritimen Know-how sehen Sie darüber hinaus?

Das Thema Ökologie der Meere und Anpassung an den Klimawandel werden künftig sehr wichtig. Beispiel CO2 Speicherung: Wie lässt sich das Speicherpotential der Ozeane optimieren? Oder CO2-Einsparung: Wie kann man die Schifffahrt effizienter machen? Auch die Erzeugung von Nahrungsmitteln ist ein wichtiger Bereich: Wie können wir Aquakulturen und Proteinquellen aus den Meeren besser erschließen? Die Datenwissenschaften können dabei helfen, besser zu verstehen, wie diese Prozesse in den Ozeanen ablaufen und wie Menschen sie nutzen können, um die Probleme der Zukunft zu bewältigen. Aber der größte Treiber in der maritimen Wirtschaft bleibt zweifellos die Energiewende.

Was wünschen Sie sich von den Absolventen der MarDATA?

Das Ausbildungskonzept der School ist hervorragend, ich habe selbst dort auf Retreats Vorträge gehalten und hatte Kontakt mit den Promovierenden. Wichtig wäre meiner Meinung nach nun, die Nachwuchskräfte schon während ihrer Zeit an der MarDATA  stärker mit der Industrie in Kontakt zu bringen. Dort lernen sie die Probleme der maritimen Wirtschaft in der Praxis kennen und umgekehrt haben die Unternehmen mit den Absolventen Leute an Bord, die das Potential haben, diese Probleme zu lösen. Die ersten Schritte einer intensiveren Zusammenarbeit wurden gerade getan. Wir stehen am Anfang eines Marathons.

 

Das Interview führte Anja Dilk

Alternativ-Text

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